Platz für mehr – Mit Reallaboren gemeinsam Stadt entwickeln

Die Anforderungen an die Karlsruher Innenstadt - wie an viele deutsche Innenstädte - sind vielschichtig und divergierend. Gerade in den unter Druck geratenen Innenstädten ist die Zusammenarbeit von Handel, Anwohner*innen, öffentlicher Hand, Kulturschaffenden und Wissenschaft das einzig wirksame Rezept für lebenswerte und resiliente öffentliche Räume. Diese werden dringend gebraucht in Zeiten des Online-Handels und der Klimakrise.

Stadtplanung betrifft unmittelbar das

Leben der Menschen, die in Karlsruhe

wohnen und arbeiten und trotzdem ist sie

für Bürger*innen oft nicht nachvollziehbar –

geradezu unsichtbar.

 

Es bestehen zum Teil falsche Erwartungen und Unverständnis gegenüber den Entscheidungen der Verwaltung und der Stadtpolitik. Manchmal fehlt es an geeigneten Formaten, echten Dialogräumen, die Grundsätzliches aushandeln und Verständnis für die unterschiedlichen Positionen schaffen, bei denen sich auch diejenigen wohl und abgeholt fühlen, die nicht ohnehin politisch oder juristisch versiert sind. Manchmal mangelt es aber auch an Aufmerksamkeit oder Interesse für abstrakte Planungsthemen. Oft rühren sich Betroffene erst, wenn die Bagger vor der Tür stehen, wenn Veränderungen sichtbar werden. Dann ist es meist zu spät.

Reallabore als Prototypen

Um neue Mobilitätspraktiken, Nutzungsszenarien und die Neuverteilung des Straßenraums zu erproben und sichtbar zu machen, wurden 2022 zwei Reallabore in der Karlsruher Innenstadt umgesetzt. Hierfür wurden für einen begrenzten Zeitraum der Passagehof und die nördliche Karlstraße attraktiver gestaltet, für den Autoverkehr größtenteils gesperrt, öffentliche Parkplätze entfielen. Der neu gewonnene Raum wurde aufgewertet, die Aufenthaltsqualität erhöht: Fußgänger*innen hatten Platz zum Flanieren und Anwohner*innen, Gewerbetreibenden sowie Kultur- und Bildungsinitiativen stand der Platz zur Bespielung bereit. Es entstanden Orte, insbesondere auch für nicht kommerzielle Nutzungen, die zum Verweilen und zum Dialog über die Stadt einluden. Um Anregungen und Wünsche direkt umsetzen und erproben zu können, bestanden über den gesamten Zeitraum online sowie vor Ort Feedback- und Informationsmöglichkeiten. Die Reallabore konnten so im Nachgang evaluiert werden.

Einbindung der Stadtgesellschaft

Kulturschaffende, zivilgesellschaftliche Initiativen, sowie Gewerbetreibende und Immobilieneigentümer konnten sich an der Belebung und Gestaltung der Innenstadt beteiligen. Sie erfuhren unkomplizierte finanzielle und organisatorische Unterstützung durch das Projektteam.

 Bürger*innen wurden online und vor Ort über verschiedene Kanäle zum Projekt informiert und befragt: Info-Stelen, Flyer, Feedbackpostkarten, Feedback-Tafeln, , Presse, Webseite, Social Media. Ergänzend gab es ein offenes Projektbüro, das zum Gespräch einlud sowie umfassende standardisierte Befragungen der Anlieger*innen und Passant*innen.

 Insgesamt blieb bei den Mitmachenden ein positives Gefühl der offenen Verwaltung mit konkreten Ansprechpersonen zurück, die zu bleibendem Kontakt und Synergien (Folgeprojekte) geführt haben. In der Weiterentwicklung des Passagehofs wurden beispielsweise fünf lokale Künstler*innen eingeladen, sich mit der neuen Fußgängerzone zu beschäftigen und eine Bodenbemalung zu konzipieren. Der Wettbewerb wurde mithilfe einer öffentlichen Ausstellung und eines Bürger*innenvotums entschieden und wird derzeit umgesetzt.

 

 

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

Initiierende Stelle:
Stadt Karlsruhe, Stadtplanungsamt. Korridor „Zukunft Innenstadt“, Leitprojekt  „Öffentlicher Raum und Mobilität Innenstadt“ (ÖRMI) 

Umgesetzt für:
Karlsruher Innenstadt

Ebene:
Kommune


Team:

Oriana Kraemer,
Stadtplanungsamt
Projektleitung, Konzeption,
Öffentlichkeitsarbeit, Gremienarbeit,
Veranstaltungsmanagement,
Evaluation, Finanzen

 

Nadine Dörr,
Stadtplanungsamt
Webseite, Befragungen,
Veranstaltungsmanagement

 

Maik Kubera,
Stadtplanungsamt
Verkehrsplanung

 

Jens Röhl,
Ordnungsamt
Straßenverkehrsrecht,
Anordnungen

 

Dirk Friedle und Ahmet Emmez,
Tiefbauamt
Verkehrsausstattung

 

Susanne Frisch,
Gartenbauamt
Grünplanung und Pflege

 

Anastasia Ziegler und Blanca Giménez,
Kulturamt, UNESCO City of Media Arts
Medienkunst und
Veranstaltungsmanagement

 

Dr. Andrea Hammer und Benedikt Dierßen,
Amt für Stadtentwicklung
Evaluation

Beteiligte Disziplinen:
Stadtplanungsamt, Ordnungsamt, Gartenbauamt,
Tiefbauamt, Kulturamt, Amt für Stadtentwicklung,
Presse- und Informationsamt, Stabstelle für
Verwaltungs- und Managemententwicklung,
Hochschule Karlsruhe, Kultur- und Bildungsinitiativen

 

Dauer:
Inklusive Planung, Nachbereitung und abschließendem Gemeinderatsbeschluss zur Weiterentwicklung
dauerte das Projekt ca. 2,5 Jahre, wobei der
Durchführungszeitraum der Reallabore insgesamt
bei 6 Monaten lag.

Budget:
Insgesamt lag das Gesamtbudget bei ca. 120.000 € für
die 6 monatige Durchführung der Reallabore
(städtische Personalkosten nicht berücksichtigt),
davon entfielen ca. 30.000 € auf die Grünpflege und
ca. 60.000 € für Medienkunst. Das Projekt wurde fast
vollständig gefördert: Ca. 90.000 € wurden vom Bund
(Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren) und
ca. 25.000 € von der KME (Karlsruhe Marketing
und Event GmbH) übernommen.

 

 

Nachgefragt bei Oriana Kraemer


Was genau hat den Anstoß zur Umsetzung gegeben?
Der Ausgangspunkt war unser Konzept für den Öffentlichen Raum und die Mobilität in der Innenstadt. Die Maßnahmen, die wir hier mit dem Büro Gehl für eine lebenswerte Innenstadt erarbeitet haben, wollten wir im „echten Leben“ testen und so auch eine größere Öffentlichkeit für das Thema gewinnen, den Diskussionsraum erweitern.   

Was ist Ihre größte Errungenschaft? Worauf sind Sie besonders stolz? Eine Bürgerin hat das Reallabor derart überzeugt, dass sie mit ihrer Spende die Neugestaltung der neuen Fußgängerzone im Passagehof finanziert hat.

Wie stellen Sie ihr (erlerntes) Wissen zu Innovationsprozessen anderen zur Verfügung?
Wir haben schon einige Kommunen aus Deutschland und der Schweiz durch die Reallabore geführt oder darüber berichtet. Mit der TU Wien beteiligen wir uns außerdem an einem internationalen Forschungsprojekt zu ganzheitlichen, städtischen Transformationsprozessen. Ansonsten stehen wir natürlich immer gerne für einen persönlichen Erfahrungsaustausch zur Verfügung.

Was war die größte (unerwartete) Herausforderung?
Für mich persönlich war es neu und auch schwierig, mit aggressiven Reaktionen auf die Verkehrsberuhigung umzugehen, vereinzelt sogar Anfeindungen auf offener Straße zu erleben. Mut gemacht haben mir dabei aber die überwiegend positiven und konstruktiven Rückmeldungen aus der Bevölkerung und die ausführliche Evaluation, mit der wir diese hochemotionale Debatte ein Stück weit versachlichen konnten.

Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Mehr Phase 0 und mehr „Wumms“ für den Projekt-Auftakt, damit auch alle Beteiligten von Anfang an „on Board“ sind und die zur Verfügung stehenden Mittel von vorneherein klar und gesichert sind. Im Idealfall käme die Organisation der Bespielung und Beteiligung dann statt von uns auch aus der Bürger- oder Anliegerschaft heraus.

Welchen Vorgang gehen Sie als nächstes an?
Nachdem wir die Umwidmung und Umgestaltung des Passagehofs abgeschlossen haben, folgt erstmal die Umsetzung einer Bodenbemalung. Parallel ist das Quartiersmanagement aktiv, damit die Anliegerinnen und Anlieger das Potential weiterhin nutzen und den Platz auch dauerhaft bespielen. Ansonsten arbeiten wir kontinuierlich mit unterschiedlichen Projekten daran, die öffentlichen Räume in der Innenstadt lebenswert und zukunftsfähig zu machen, ganz nach unserem Motto: Platz für mehr Grün, mehr Leben und mehr gesunde Mobilität.

Was würden Sie anderen Behörden raten, die sich aufmachen einen ähnlichen Prozess wie Sie anzugehen?
Mut zum Experiment! Suchen Sie sich Verbündete, intern wie extern. Die Auswertung und „das Nachleben“ der Experimentierräume sollte von Anfang an mitgedacht werden.

Glauben Sie, dass das gleiche oder ein ähnliches Ergebnis mit anderen Mitteln hätte erreicht werden können? Mit welchen?
Nein. Die allgemeine Akzeptanz für die verkehrsberuhigenden Maßnahmen ist durch das sensorische und gefühlsmäßige Erleben gestiegen. Die Rückmeldungen, die wir so erhalten haben, sind vielschichtiger und diverser als bei einer gewöhnlichen Stakeholder-Beteiligung, bei der sich eine große schweigende Mehrheit eher nicht zu Wort meldet.

Welche neuen Kompetenzen wurden eventuell erlernt und welche neuen Kompetenzen benötigt „Verwaltung“ in der Zukunft?
Was wir in Karlsruhe schon lange leben, ist eine enge Zusammenarbeit über Fach- und Hierarchiegrenzen hinweg und eine gute Beteiligungskultur. Das hat sich für die Reallabore noch einmal deutlich intensiviert. Für die Zukunft braucht es, denke ich, noch mehr Flexibilität und Offenheit für nicht-lineare Prozesse. Da ist auch eine positive Fehlerkultur hilfreich - auf verwaltungs- aber auch auf Bürger*innenseite. Denn die Angst Fehler zu machen, hemmt Innovation.

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